Ozan Zakariya Keskinkılıç: Muslimisch, queer, selbstbewusst (2024)

Stand: 19.04.2024 07:46 Uhr

Junge, diverse Autor*innen zu fördern, das hat sich die Stiftung Niedersachsen mit ihrem Stipendium "SchreibZeit" vorgenommen. In Göttingen präsentieren die Stipendiaten nun ihre Kunst, beim Festival "an/grenzen". Mit dabei: der Berliner Autor und Dichter Ozan Zakariya Keskinkılıç. Ein Porträt.

von Yasemin Ergin

Ozan Zakariya Keskinkılıç passt in keine Schublade. Er ist Lyriker, Sachbuchautor, Politikwissenschaftler, und laut Selbstzuschreibung in einem Podcast-Interview unter anderem auch "hauptberuflicher Integrationsverweigerer". Außerdem ist er Familienvater, praktizierender Muslim und queer. Erwähnenswert ist sein Privatleben deshalb, weil es zu Keskinkılıçs Wirken gehört, die vermeintliche Unvereinbarkeit seiner verschiedenen Lebensrealitäten zu dekonstruieren.

In seinem 2021 erschienen Sachbuch "Muslimaniac: Die Karriere eines Feindbildes" beschreibt er im Kapitel "Queer Dschihad", welche Rolle Sexualität im antimuslimischen Rassismus spielt. Der Islam sei queerfeindlich und hom*ophob, vermittelt schließlich der gängige Diskurs. Dadurch werden aber die Erfahrungen queerer Musliminnen und Muslime, die selbstverständlich keine seltene Ausnahme sind, systematisch unsichtbar gemacht, so Keskinkılıç. Sein "Queer Dschihad" ist als Aufforderung gemeint, unterschiedliche Diskriminierungserfahrungen zusammen zu denken. Statt sich gegeneinander ausspielen zu lassen, sollten von Rassismus und Queerfeindlichkeit betroffene Menschen lieber Allianzen bilden, so sein Vorschlag.

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Kindheit in Hessen mit Ausgrenzungserfahrungen

Keskinkılıç wurde 1989 als Sohn türkischer Einwanderer geboren. Sein Vater war Taxifahrer und Maschinenführer in einer Fabrik, seine Mutter hat viele Jahre als Reini­ gungskraft und Kassiererin gearbeitet. Er wuchs in einem kleinen Dorf in Südhessen mit ein paar Hundert Einwohnern auf. Für viele im Dorf sei seine Familie das "Exotischste" gewesen, was sie zu Gesicht bekommen hatten, erzählt er später in einem Interview mit der "taz".Schon als Kind sei er ständig damit konfrontiert gewesen, "anders" als die anderen zu sein. Besonders in der Schule machte sich das für ihn auf schmerzhafte Weise bemerkbar. Als einer der wenigen Schüler mit "Migrationshintergrund" gehörten Ausgrenzungserfahrungen für ihn stets dazu. In seinem Buch beschreibt er manche dieser Erfahrungen in dem Kapitel "Die Verwandlung zum islamischen Schreckgespenst". Immer wieder, so erinnert der Autor sich darin, habe er sich vor Lehrer*innen und Mitschüler*innen für seinen Glauben rechtfertigen und Spott und Anfeindungen in Bezug auf seine Religion erleben müssen.

Lange habe er versucht, sein Anderssein zu verstecken, sein Aussehen und sein Verhalten an die Ideale der Mehrheitsgesellschaft anzupassen, beschreibt der Autor in "Muslimaniac". Bis er irgendwann gelernt habe, dass "Leute wie er" durchaus widersprechen und sich wehren dürfen. Auch seinen lange verdrängten muslimischen Glauben habe er irgendwann wiederentdeckt, wie er später in einem Beitrag für die Zeit schrieb. Im Islam, der Religion, die ihm in die Wiege gelegt wurde, finde er nach Jahren der Distanz heute wieder Trost und Spiritualität.

Rassismuserfahrungen - auch an der Universität

Nach dem Abitur wollte Keskinkılıç eigentlich Psychologie studieren, er war ein Semester lang für das Fach eingeschrieben. Doch eine weitere Rassismuserfahrung an seiner damaligen Uni warf ihn so aus der Bahn, dass er das Studium wechselte: Eine Kommilitonin habe ihn damals als "Sozialschmarotzer" beschimpft, als er von seinem Traum, irgendwann in Kanada zu leben, erzählte. "Typisch Ausländer, erst Steuergelder ausnutzen und sich dann verziehen", so habe sie den gebürtigen Hessen beschimpft - und keiner der Anwesenden habe eingegriffen. Keskinkılıç erzählt diese Anekdote heute hin und wieder in Interviews und Gastbeiträgen. Sie ist für ihn Beleg dafür, dass Rassismus oft auch an Orten lauert, an denen Betroffene nicht damit rechnen: "Ich lernte, dass Bildungsabschlüsse nichts darüber aussagen, wie tolerant ein Mensch ist und dass Rechtsextreme kein Monopol auf Rassismus haben."

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Keskinkılıç lehrt in Berlin zu Rassismus

Er wechselte das Fach, studierte zunächst in Wien Internationale Entwicklung und Internationale Beziehungen mit Fokus auf kritischer Rassismusforschung und postkolonialer Theorie. Heute lebt Keskinkılıç in Berlin, wo er an verschiedenen Hochschulen zu Rassismus, Antisemitismus und Orientalismus lehrt und forscht. 2021 wurde er als Mitglied der Expert*innenkommission gegen antimuslimischen Rassismus in Berlin berufen. Man könnte sagen, er hat die Beschäftigung mit Rassismus zum Beruf gemacht.

Erste Gedichte inspiriert von Aras Örens

Doch auch die Lyrik spielte für den jungen Wissenschaftler, dessen erster Vorname "Ozan" übrigens so viel wie "Poet" bedeutet, immer eine wichtige Rolle. 2019 trug er erstmals eigene Gedichte öffentlich vor, inspiriert von den Werken Aras Örens - einem in der Türkei geborenen Schrifsteller, der Anfang der 1970er-Jahre als erster Dichter die Perspektive der so genannten "Gastarbeiter*innen" in die deutsche Literatur brachte.Ihm sei es wichtiges Anliegen, dass von Rassismus betroffene Personen auch als "Produzent*innen von Kunst und Kultur" in Erscheinung treten, sagte Keskinkılıç dazu in einem Interview mit dem "Berliner Tagesspiegel".

Im Sommer 2022 erschien sein Lyrikdebüt "Prinzenbad" im ELIF Verlag von Dinçer Güçyeter. Ein Band voller Gedichte, in denen die queer-muslimische Perspektive im Mittelpunkt steht. Mit dem Gedichtband begibt er sich in gewisser Weise auf die Spuren einer heute fast vergessenen Tradition in der muslimisch geprägten Literatur: In "Muslimaniac" beschreibtKeskinkılıç, dass die Liebe zwischen Männern bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein fest verankert war in der persischen und arabischen Lyrik. Bei seiner Recherche fander abernicht nur historische, sondern auch zeitgenössische queer-muslimische Stimmen in der Poesie, so wie Seema Yasmin aus den USA oder Omar Sakr in Australien. MitKeskinkılıçseigenem lyrischen Debüt ist nun auch die deutsche Literatur um eine solche Stimme reicher.

Das Festival "an/grenzen" findet am 19. und 20. April im Literaturhaus Göttingen statt.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur |Freitagsforum |25.06.2021 | 15:20 Uhr

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